Brahms-Preis 2010

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Leuchtendes Brahms-Dreigestirn „Jeder Band eine neue Welt“
Am Sonntag, 02.05.2010, wurde in Heide der mit 10.000 Euro dotierte Brahmspreis 2010 der Brahms-Gesellschaft Schleswig-Holstein an die Forschungsstelle „Johannes Brahms Gesamtausgabe“ (JBG) verliehen. Das Team um Prof. Dr. Siegfried Oechsle ist am Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Kiel beheimatet und erarbeitet die historisch-kritische Neuausgabe des kompositorischen Gesamtwerkes des Hamburger Komponisten mit Dithmarscher Wurzeln, die der Wissenschaft wie auch der musikalischen Praxis dienen soll.

In seinen Grußworten würdigte Kultusminister Dr. Ekkehard Klug die Verdienste des Forschungsteam für das Land Schleswig-Holstein, das sich durch das „leuchtende Dreigestirn“ – Brahms-Institut in Lübeck, Brahms-Gesellschaft in Heide und Brahms-Forschungsstelle in Kiel – als Zentrum der Pflege Brahms’schen Schaffens etabliert hätte. „Ihre Arbeit ist als nationale Aufgabe anerkannt und gefördert“, so der Minister. Geadelt werde die Preisverleihung durch das Festkonzert des NDR Chors, frisch gebackener Preisträger der Brahms-Medaille der Hansestadt Hamburg, so der Vorsitzende der Brahms-Gesellschaft Prof. Eckart Besch: „Soviel Brahmskompetenz an einem Ort gibt es selten.“ Prof. Dr. Wolfgang Sandberger, Leiter des Brahms-Instituts an der Musikhochschule Lübeck, verdeutlichte in seiner launigen Laudatio wie sehr dem Komponisten, der sich als Pianist und Dirigent auf vielfältige Weise mit der Musikforschung seiner Zeit auseinandergesetzt hat, der diesjährige Preisträger gefallen hätte. „Für mich ist jeder Band eine neue Welt“ soll er anlässlich der Veröffentlichung der ersten Bach-Gesamtausgabe geschwärmt haben. Wie groß das internationale Interesse an ihrer Forschungsarbeit ist, verdeutlichte Siegfried Oechsle in seinen Dankesworten. An den Editionen der JBG seinen nicht nur Forscher des In- und Auslandes beteiligt – durch die Verbindung der Forschungsstelle mit der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien werde die Arbeit nicht nur durch das Land Schleswig-Holstein, aus Bundesmitteln und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, sondern auch durch das Österreichische Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung gefördert.

Dass die Musik Johannes Brahms nicht nur Wissenschaftler und Forscher interessiert, sondern auch dem NDR Chor ganz besonders gut liegt, konnte das Publikum beim anschließenden Festkonzert eindrucksvoll erleben: unter anderem betörte das Ensemble in der A-cappella-Motette „Warum ist das Licht gegeben“ mit einer Mischung aus transparenter Klarheit und einem voluminösen Klang, der noch im zartesten Pianissimo den ganzen Kirchenraum füllt – eine kostbare, dunkel abgerundete Farbe, wie sie eben nur professionellen Sängern zu Gebote steht.

Text: Andreas Guballa
Foto oben: Prof. Eckart Besch überreicht Prof.Dr. Siegfried Oechsle den BrahmsPreis 2010
Foto links: v.l. Prof. Eckart Besch, Dr. Johannes Behr, Prof. Dr. Friedhelm Krummacher, Dr. Kathrin Eich, Prof. Dr. Siegfried Oechsle,
Dr. Michael Struck, Prof. Dr. Wolfgang Sandberger

Blick in Brahms‘ Komponistenwerkstatt
Brahmspreis 2010 an die Forschungsstelle „Johannes Brahms Gesamtausgabe“ an der Universität Kiel
Heide (gub) – Bereits zum 20. Mal vergibt die Brahms-Gesellschaft Schleswig-Holstein mit Sitz in Heide den Brahmspreis und würdigt damit eine Persönlichkeit oder Institution, die sich in besonderer Weise um die Pflege der Brahms’schen Musik und sein musikalisches Erbe verdient gemacht hat.
Nachdem der Preis in den letzten Jahren an musikalische Solisten und Ensembles vergeben wurde, erhält im Jahr 2010 die Forschungsstelle „Johannes Brahms Gesamtausgabe“ am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Kiel den mit 10.000 Euro dotierten Brahms-Preis. „Die Mitarbeiter der Forschungsstelle erarbeiten zur Zeit in Kiel eine historisch-kritische Neuausgabe des kompositorischen Gesamtwerkes von Johannes Brahms, die der Wissenschaft wie auch der musikalischen Praxis dienen soll“, erklärt Professor Eckart Besch, Vorsitzender der Brahms-Gesellschaft.
Nach einer ersten Aufarbeitung des Brahms’schen Schaffens durch die 1926/27 erschienene „alte“ Gesamtausgabe, die heute als wissenschaftlich überholt und unvollständig gilt, zieht die „Neue Ausgabe sämtlicher Werke“ sämtliche erreichbaren Werkquellen heran. Auch fragmentarisch überlieferte Kompositionen, Entwürfe und Skizzen werden gesammelt, in ihrer Bedeutung untersucht und angemessen dokumentiert.

„Der Komponist schreibt ein Werk auf. Nach erneuter Durchsicht schickt er es entweder gleich an einen Verlag oder lässt Abschriften anfertigen, aus denen das Werk probeweise aufgeführt wird. Nach erneuter Kontrolle und Überarbeitung des Notentextes schickt er das Werk dann an den Verlag. Dort wird es gestochen und der Komponist bekommt einen Abzug zum Korrekturlesen – oft gibt es sogar mehrere Korrekturphasen. Dann geht es an die musikalische Öffentlichkeit, wird also aus der Obhut des Komponisten entlassen“ erläutert Dr. Michael Struck, einer von drei wissenschaftlichen Mitarbeitern um den Vorsitzenden der Forschungsstelle, Professor Dr. Siegfried Oechsle, den Entstehungsprozess einer Partitur. Obwohl Brahms ein vergleichsweise sorgfältiger Korrekturleser war, habe sich gezeigt, dass ihm viele Schreib-, Kopisten- und Stecherfehler entgingen. „Wir nehmen ihm diese Arbeit nachträglich ab, um das Werk in optimaler Form herausgeben zu können“, so Struck.
Zwischen rund 80 und mehr als 300 Korrekturen des Notentextes müssen pro Gesamtausgaben-Band vorgenommen werden – von einzelnen Noten über Lautstärke- und Artikulationsbezeichnungen bis zu Wortangaben. „Unser Ziel ist es, den Intentionen des Komponisten so nahe wie möglich zu kommen.“ Geplant seien mindestens 65 Notenbände mit eingebundenen Kritischen Berichten und Einleitungen, die ausführlich über Entstehung, erste Aufführungen, Veröffentlichung und Urteile der Zeitgenossen informieren. Bisher sind elf Notenbände erschienen, etliche weitere befinden sich im Druck oder in Arbeit.

Brahms-Forschungsstelle Kiel, Musikwissenschaftliches Institut an der Christian-Albrechts-Universität Kiel: Prof. Dr. Siegfried Oechsle (Projektleiter, 2. v. l.), Dr. Johannes Behr, Dr. Katrin Eich, Dr. Michael Struck (Wissenschaftliche Mitarbeiter der Forschungsstelle, Mitglieder der Editionsleitung, v. l. n. r.)

Verliert man bei der tagtäglichen Auseinandersetzung mit Johannes Brahms nicht irgendwann die Faszination für den Komponisten? „Nein“, beteuert Michael Struck und schließt dabei auch seine Kollegen Dr. Katrin Eich und Dr. Johannes Behr ein. „Hinzu kommt, dass wir selbst musizieren. Dadurch erleben wir eine spannende Wechselwirkung zwischen der Kontrolle des Notentextes und dem Erklingen der Musik. Außerdem sind Brahms‘ Kompositionen so vielschichtig, dass einem bei jedem Hören neue Feinheiten aufgehen. Dadurch wirkt die Musik nicht nur wissenschaftlich-analytisch, sondern auch emotional immer wieder neu.“ Besonders aufregend wird es, wenn plötzlich verschollen geglaubte Handschriften auftauchen oder sogar unbekannte Alternativfassungen wie die im Heider Klaus-Groth-Museum gefundenen Groth-Vertonungen aus den acht Liedern und Gesängen opus 59: „Brahms hatte Klaus und Doris Groth neun Monate vor der Veröffentlichung eine Abschrift der vier Groth-Vertonungen geschickt, die er hier zu einem kleinen Zyklus zusammengefasst hatte. Für die Druckfassung nahm er später noch Änderungen und Umstellungen vor. Während Brahms die Originalhandschrift der ursprünglichen Fassung vernichtete, war die verschenkte Abschrift für ihn nicht mehr erreichbar und konnte überleben.“ Durch solche Funde wird für einen Moment der Blick in Brahms‘ Komponistenwerkstatt frei – „ein Blick, den der Komponist der Nachwelt zu verwehren suchte, indem er viele Skizzen, Entwürfe und Werke, mit denen er unzufrieden war, vernichtet hat.“ Der frühe „Regenlied-Zyklus“ wurde übrigens 1995 in Kiel und Heide erstmals aufgeführt und 1997 zu Brahms 100. Todestag veröffentlicht. Das Manuskript liegt heute im Heider Stadtarchiv.

Die langjährige Puzzlearbeit der JBG wird nun mit der Verleihung des Brahmspreises 2010 gewürdigt. „Der Preis ist eine schöne Anerkennung unserer täglichen wissenschaftlichen Arbeit, die unmittelbare Konsequenzen für die künstlerische Pflege von Brahms‘ Werk hat“, so Struck. „Das Preisgeld hilft bei der weiteren Arbeit und ermöglicht Sonderprojekte.“

Im Rahmen eines Festaktes wird der Brahms-Preis 2010 am 2. Mai in der St.-Jürgen-Kirche in Heide verliehen. Die Laudatio hält Prof. Dr. Wolfgang Sandberger, Leiter des Brahms-Instituts an der Musikhochschule Lübeck. Das musikalische Rahmenprogramm des Abends bestreitet der NDR Chor unter der Leitung von Philipp Ahmann.

Die Verleihung des Brahms-Preises ist gleichzeitig musikalischer Auftakt der diesjährigen Brahms-Wochen, die bereits zum 14. Mal stattfinden. Unter dem Motto „In meinen Tönen spreche ich….“ erklingen bis zum 11. November in fünf Veranstaltungen Chorwerke, Lieder, Kammer- und Klaviermusik des Hamburger Komponisten mit Dithmarscher Wurzeln.