Alles andere als verstaubt

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Auftaktkonzert der Brahms-Wochen 2015: Klassik trifft Tango

Mit einem fulminanten Doppelkonzert und einem kulinarischen Intermezzo wurden am Samstag die Brahms-Wochen 2015 im Stadttheater Heide eröffnet. Das französische Streichquartett Quatuor Voce begeisterte die Zuschauer zunächst mit einem klassischen Kammermusikabend und anschließend im Zusammenspiel mit dem Bandoneon-Spieler Pierre Cussac bei einer ausgelassenen Nachtmusique mit argentinischen Tangos.

Quatuor Voce und Pierre CussacStreichquartett und Tango – passt das zusammen? Auf jeden Fall waren sich die Besucher am Ende des Auftaktkonzerts der diesjährigen Brahms-Wochen einig. Das Motto des Abend ging so: zwei Bühnen, zwei Musikstile – dazu gutes Essen in einer entspannter Atmosphäre. Für diesen Anlass hatten die Veranstalter fünf Musiker eingeladen, die prädestiniert sind für Grenzüberschreitungen. Das Quatuor Voce, kürzlich von der Cité de la Musique zum „Rising Star“ ernannt, versucht mit ausgefallenen Programmen die klassische Musik aus ihrer traditionellen Umgebung zu lösen. Der Franzose Pierre Cussac spielt sowohl Akkordeon als auch Bandoneon und kommt so mit der Tango-Szene ebenso in Berührung wie mit improvisierter und experimenteller Musik. Dass hier der Erneuerer des argentinischen Tangos, Astor Piazzolla (1921-1992), nicht fehlen durfte, versteht sich von selbst. Er ist der wohl bekannteste Tonsetzer Argentiniens. Mit Elementen des Jazz und der klassischen Moderne erweitete Piazzolla den traditionellen Tango ebenso wie durch experimentelle Klangeffekte der zeitgenössischen Musik. Die fünfsätzige Suite „Tango sensations“ von 1989 entstand nach einer längeren Krankheit des Komponisten und gilt in seiner melancholisch gefärbten Schönheit als musikalischer Abgesang an das Leben. Satztitel wie „Asleep“, „Loving“ oder „Fear“ zeigen, dass er existenzielle Grundsituationen des Lebens im Sinne hatte, die er in komplexer Harmonik und mit einer großen Vielfalt an Farben, Tempi und melodischen Einfällen beschrieb, ohne auf Eingängigkeit zu schielen. Das Quartett mit Sarah Dayan (Violine), Cécile Roubin (Violine), Guillaume Becker (Viola) und Lydia Shelley (Cello) sowie Pierre Cussac am Bandoneon gingen sehr sensibel auf die Stimmungen ein und verleugneten auch nicht die gelegentlichen Härten. Dass man den Tango mit Leidenschaft assoziiert, ist mehr als nur ein Klischee, und so interpretierte Pierre Cussac auch zwei Solostücke für Bandoneon außerordentlich temperamentvoll. Er bewegte sich im Rhythmus der Musik, stampfte den Takt und arbeitete die markanten Rhythmen und den Wechsel zwischen breitem Melodiestrom und scharf abgesetzten Akkorden äußerst plastisch heraus.

Bereits im ersten Konzertteil hatte das Quatuor Voce mit Werken von Beethoven, Ravel und Brahms auf durchgängig hohem Niveau ihre musikalische Visitenkarte abgegeben und die vielfach gelobten Merkmale ihres Musizierstils bewiesen: Hohe klangliche Sensibilität, feinnervige Unverwaschenheit des Klanges, intensives Durchdringen der kompositorischen Strukturen und zupackende Musizierfreude. Voller Emotion trugen sie zunächst das Streichquartett Nr. 4 c-Moll von Beethoven und danach das wundersam-melodiöse und flirrende Quartett F-Dur von Maurice Ravel vor. Da stimmte jeder Tempowechsel, jede Intonation von zartesten Saitenklängen bis zu raffinierten Pizzicato-Passagen. Brahms‘ drittes Streichquartett B-Dur spielten sie frisch, temperamentvoll und präzise. Wer immer noch glaubt, dass klassische Musik verstaubt klingen muss, den belehrten diese vier Künstler endgültig eines Besseren.

Das Experiment, durch die Brahms-Wochen frischen Wind in den Klassikbetrieb zu bekommen, ist gelungen. Eingeschworene Tangofans hatten genauso viel Freude an den klassischen Arrangements wie die Streichquartett-Freunde, die auf diese Weise Piazzolla & Co. noch ein Stück näher kommen konnten oder vielleicht zum ersten Mal begegneten (Text/Foto: Guballa).